Tschernobyl 1986

aus einem Vortrag von Valentin Bjelokon

 

“...Zur Zeit der Katastrophe 1986 waren in Tschernobyl vier Reaktoren am Netz und zwei noch im Bau. In der Stadt Pripjat wohnten damals etwa 80.000 Menschen. Das Durchschnittsalter der Einwohner von Pripjat, also der erwachsenen Einwohner, war 23 bis 25 Jahre. Es war eine Stadt der jungen Leute. Der vierte Reaktor wurde damals im April planmäßig gewartet. Er hat also zu dieser Zeit nicht voll gearbeitet. Zu dieser Zeit war der Reaktor also nicht am Netz und arbeitete praktisch im Leerlauf. Das heißt, daß das Sicherheitssystem auch abgeschaltet war. Als der Unfall passierte, konnte sich deshalb gar kein Sicherheitssystem einschalten...

 ...Diese Nacht war eine Nacht von Freitag auf Samstag, also der Anfang eines arbeitsfreien Tages. Es war nur die Hälfte des sonst üblichen Personals dort, als der Reaktor im Leerlauf lief, also nicht voll arbeitete. Im Arbeits- und Kontrollraum des Reaktors arbeiteten damals junge Leute, die noch nicht lange in einem Atomkraftwerk gearbeitet hatten und darum unerfahren waren. Es war der Havariefall auch nicht richtig geübt und gelernt und so liefen die Menschen im entscheidenden Augenblick ziemlich durcheinander.

 

 Die Explosion ereignete sich um kurz nach ein Uhr in der Nacht. Wir kamen mit dem Notarztwagen fünfzehn Minuten später dort an. Im Moment unserer Ankunft waren am Reaktor noch das Bedienungspersonal und die Männer von zwei Feuerwehrzügen. Es waren vor allem diese vierzehn Feuerwehrleute, die erbittert gegen das Feuer kämpften. Das Dach des Reaktors war durch die Explosion eingestürzt und es brach ein großes Feuer aus. So arbeiteten die Feuerwehrleute, wie man anschließend erfahren hat, in einer ausgesprochen stark verstrahlten Zone. Dort nahmen sie ihren verzweifelten Kampf gegen das Feuer auf. 

In den ersten Stunden wußte niemand der dort arbeitenden Menschen etwas von der Höhe und der Gefahr der freigewordenen Radioaktivität. Erst als die ersten Erscheinungen der Strahlenkrankheit auftraten, wurde man sich langsam darüber bewußt, daß Radioaktivität freigesetzt worden war. Man dachte am Anfang, daß es ein ganz gewöhnliches Feuer sei, und darum arbeiteten auch alle Menschen am Reaktor, also die Ärzte, die Feuerwehrleute und das Personal, in diesen Stunden ohne jede Schutz-kleidung. Als dann später die ersten Strahlenkranken zur Behandlung kamen, wurde erst klar, bis in welchen Bereich hinein sich die Strahlendosis erhöht hatte. Die verstrahlten Leute wurden so schnell wie möglich ins Krankenhaus gebracht. Die Informationen über die Strahlenkranken wurden an die anderen Krankenhäuser weitergegeben. Erst gegen Morgen, nach der Unglücksnacht, wurde das Personal aus der am stärksten verstrahlten Unglückszone im Reaktor evakuiert. 

Sowohl die Feuerwehrleute als auch das inzwischen verstrahlte Personal kamen ins Krankenhaus, wo man ihnen sofort intensive medizinische Hilfe gab. Am Abend dieses Tages kam eine staatliche Kommission - in unserer Gegend waren auch staatlich angestellte Ärzte - die alle verstrahlten Patienten der Klinik anschaute. Es wurde sofort entschieden, daß der Teil der Opfer, die besonders stark Stahlen abbekommen hatte, nach Moskau in die sechste Klinik verlegt werden sollte... 

...Vielleicht wissen Sie, daß in dieser Zeit aus Amerika der Strahlenexperte Dr. Gale kam. Dr. Gale hat damals alle Kranken angeschaut und dann ausgewählt, bei welchen Menschen man in einer Operation die Knochenmarkstransplantationen vornehmen wollte. Dafür wurden von ihm einige Schwerstverletzte ausgewählt. Es waren diejenigen Menschen, bei denen man nach dem damaligen Kenntnißstand sagen konnte, daß sie ohne Operation nicht mehr lange leben könnten. So wurden einige Operationen durchgeführt, wobei man die Transplantate besonders nahen Ver-wandten, Bruder oder Schwester z.B., entnommen hatte. Nur konnte selbst eine solche Methode diese Menschen nicht mehr retten. Bis Ende Mai 1986 sind trotz dieser Eingriffe alle, die in der Nacht dort am Block 4 gearbeitet hatten, vor allem die vierzehn Feuerwehrmänner, von denen ich schon gesprochen hatte, verstorben. Die aufwendigste Chirurgie konnte ihnen das Leben nicht retten. 

Seit dem Jahr 1986 bin ich nun in Donezk in der Kreiskinderklinik als Arzt tätig. Seit zwei Jahren kümmere ich mich, besonders in den Sommerferien, um das ehemalige Jugendpionierlager “Rote Nelke“ in Slawjanagorsk. Mein Traum ist es jetzt, in diesem Lager ein Kindersanatorium aufzu-bauen. Damit möchte ich die Möglichkeit schaffen, Kinder zu heilen. Ich denke dabei nicht nur an die, die durch Tschernobyl direkt betroffen sind. Alle Kinder, die diese Hilfe aufgrund ihrer Leiden nötig haben, sollen Erholung und medizinische Versorgung finden.“ 

  

Frage: “Um welche Uhrzeit sind Sie nach Tschernobyl zum Reaktorblock gekommen?“ 

Antwort: “Ich bin etwa fünfzehn Minuten nach der Explosion am Unglücksort in Tschernobyl eingetroffen. Etwa sieben Minuten nach dem Auftreten der ersten Probleme ereignete sich die Explosion. Das hing damit zusammen, daß die Feuerwehr auf so einen Fall nicht vorbereitet war. Sie versuchte den heißgelaufenen Reaktor mit Wasser zu kühlen. Mit diesem Versuch mußte es zu tun haben, daß die Explosion ausgelöst wurde. Damit wurde die Decke über dem Reaktorkern zerstört. Graphit blöcke und Teile der Brennstäbe lagen auf dem Gelände herum. Es schlugen Flammen aus dem Reaktor. Die Menschen waren zum Teil furchtbar verbrannt. Es war entsetzlich.“ 

  

Frage: “Wann wurden Ihnen die ersten Opfer, die durch die Strahlen verletzt waren, gebracht und was haben Sie in dieser Situation getan?“ 

Antwort: “Was wirklich geschehen war, daß es sich um Strahlenopfer handelte, das wurde mir erst etwa dreißig Minuten nach meiner Ankunft klar. Es wurde klar, daß wir es eben nicht mit einem gewöhnlichen Brand, mit einem gewöhnlichen Feuer zu tun hatten, sondern mit einem sehr schweren Unfall, bei dem in großen Umfang radioaktive Strahlung frei geworden war. Aber in dieser Stunde funktionierte auf dem ganzen Gelände nicht ein einziger Geigerzähler. Es war gar nicht ablesbar, wie hoch die radioaktive Strahlung war, der wir alle ausgesetzt waren...“ 

  

...Frage: “Als Sie zum Unfallort gerufen wurden, wußten Sie ja noch nicht, wie ernst die Situation. am Reaktor war und daß radioaktive Strahlung freigesetzt wurde. Wie konnten Sie denn so schnell auf das reagieren, was Sie vorfanden? Was haben Sie an Sofortmaßnahmen eingeleitet?“ 

Antwort: ‘Die ersten Patienten, die zu dem Notarztwagen kamen, hatten Kopfschmerzen, Schwindelgefühle und mußten sich immer wieder er-brechen. Das erste, was ich als Arzt tat, war, den Blutdruck zu kontrollieren und jeden zu fragen, wie er sich fühlte, bevor er seine Arbeit angetreten hatte. Die Symptome und das Bild, das ich mir selbst beim Anblick der Menschen langsam machte, waren für mich eindeutig. Aber natürlich verging eine gewisse Zeit, bis ich begriff, was das andere in dieser Situation war. Es war so ungeheuerlich, daß wir es zunächst nicht begreifen konnten... 

  

...Frage: “Um das Ausmaß der Katastrophe deutlich zu machen: Gibt es da Zahlen über die Todesopfer, die Tschernobyl wirklich gefordert hat? Also nicht nur, wie viele gestorben sind, sondern auch wie viele lebenslang davon Schaden genommen haben?“ 

Antwort: ‘Direkt in der Unglücksnacht sind zwei junge Männer vom Bedienungspersonal ums Leben gekommen. Sie arbeiteten direkt drinnen im Reaktor, am Steuerpult. Von der ersten Gruppe der Feuerwehrleute, es waren insgesamt vierzehn Männer, lebt heute keiner mehr. Obwohl in der Unglücksnacht direkt nur zwei Todesopfer waren, sind natürlich im Laufe der Zeit sehr viel mehr gestorben. Welchen Einfluß das Unglück auf längere Zeit hin hat, läßt sich nicht genau sagen, da es keine offiziellen Zahlen gibt bzw. die offiziellen Zahlen nicht bekanntgegeben werden. Was wir dennoch wissen, übersteigt unsere früheren Vorstellungen. So gesehen hat es wohl tausende Opfer gegeben. Dazu kommen noch die Langzeitwirkungen, deren Ausmaß heute noch niemand beurteilen kann.“