Die Ukraine nach dem Supergau

Der folgende Text stammt aus: Peter Krause: "Feuer in Tschernobyl  -Die Ukraine nach dem SuperGAU"  Flensburger Hefte Verlag Flensburg 1994  ISBN 3-926841-58-3

Erlebnispädagogik:

Bei den Versuchen, die Waldorfpädagogik in industrielle Arbeitsfelder zu integrieren, wurde in den 80er Jahren der Begriff der Erlebnispädagogik geschaffen. Gemeint ist eine Form der Pädagogik, die die entsprechenden  Unterrichts- und Lerninhalte nicht in trockenen Seminaren vermittelt, sondern die Erfahrungsfelder schafft, in denen die jungen Leute von der Hand zum Kopf lernen. Erlebnispädagogik bezogen auf unser Baucamp heißt, daß man politische Fragen in ihrer ganzen großen Dimension so bearbeiten und erleben kann, daß sich mit ihnen ein persönliches Anliegen verbindet. Ich selbst habe das Gefühl, daß sich unter Maßgabe dieses pädagogischen Konzepts auch eine großartige Möglichkeit ergibt, die Ideale und Herausforderungen des Christentums in der praktischen Welt zu erleben und in Beziehung zu den eigenen sozialen Fähigkeiten zu erüben. Seit einigen Jahren schon orientiert sich ein großer Teil der Jugendarbeit der Christengemeinschaft in Nordrhein- Westfalen an diesem pädagogischen Prinzip. Ein Ergebnis war die große internationale Jugendbegegnung Pfingsten 1992.

Die Idee des Baucamps und deren Realisation geschah im Laufe von ca. zehn Monaten durch Jugendliche. Alle hatten das Bedürfnis, konkret helfen zu wollen und andererseits hautnah zu erleben, was Zeitgeschichte im Verhältnis zum Leben der Menschen in Deutschland und zur altehrwürdigen Geschichte und Seelenverfassung des ukrainischen Volkes ist. Das ergab den eigentlichen Reiz dafür, daß Jugendliche mit großem Engagement vorbereiteten, was dann während 3.1/2 Wochen im Juli 1993 in der Ukraine auch Äußerlich sichtbare Wirklichkeit wurde.

 

Registrierung der Medikamente und Hilfsgüter 

Photo: Steinschleuder Archiv

Eine Idee wird Realität

Was alles bei der Organisation des Baucamps geleistet wurde und in Frage kam, läßt sich in Kürze nicht erschöpfend beschreiben. Jedenfalls war ein erstes vorläufiges Ergebnis, daß die Hilfsgüter verladen und verteilt werden konnten. Viel war schon bis dahin geschafft worden. In Sammlungen, in denen die Jugendlichen teilweise von haus zu Haus oder die Verwandtschaft gingen oder die aus Anlaß von Klassenspielen und sonstigen Veranstaltungen stattfanden, durch Benefizkonzerte und gezielte Spendenaufrufe an Firmen und Baumärkte, waren die Hilfsgüter zusammengekommen.Ein Jugendlicher aus Baden-Württemberg brachte mit Hilfe von Mitschülern und Lehrern der Pforzheimer Waldorfschule allein die Ladung eines 7,5 t großen LKW zusammen. Von sehr vielen verschiedenen Seiten wurden wir unterstützt. Alle Teilnehmenden sammelten ihre Erfahrungen. Auch die Reiseplanung wurde gemeinsam vorgenommen. Verhandlungen über Preise und Leistungen wurden geführt, der Einsatz der Spendengelder in den verschiedenen Bereichen der Hilfsaktionen bedacht. Ebenso besprachen wir die ganz andere Lebensart und  die ganz anderen Lebensverhältnisse der Menschen in der Ukraine, besonders unter dem Vorzeichen der gegenwärtigen Situation. Auf diese Weise entstand der tragfähige Zusammenhalt unter den Teilnehmenden, der uns letztendlich die Durchführung unter den erschwerten Bedingungen vor Ort ermöglichte. 

Kurz vor der Abreise mußten die Zollisten in Ausführlichkeit geschrieben werden. Jeweils vier Jugendliche arbeiteten zuletzt rund um die Uhr, am Computer, während die anderen sortierten und packten. Die Ladung des LKWs umfasste schließlich alle notwendigen Baustoffe für die erste Bauphase der Krankenstation, eine große Menge an Medikamenten, medizinische Hilfsgüter und Geräten sowie Zweite- Hand- Kleidung, Spielzeug und Nahrungsmittel.

Abenteuer "Hilfsaktion"

Niemand von uns konnte ahnen, in welchen Bahnen sich das Baucamp und die ganze Hilfsaktion sich letztendlich realisieren würde. Zum Glück hatten wir in vielerlei Hinsicht die in Frage kommenden Eventualitäten bedacht.  

Nach unserem Aufenthalt in Kiew, schließlich in Slawjanogorsk angekommen, begannen die Verhandlungen um die Übergabeverträge. Es wäre eine nicht wiedergutzumachender fehler gewesen, wenn wir die Hilfsgüter in blindem Vertrauen auf die zweckmäßige Verwendung einfach übergeben hätten. So entschieden wir uns dafür, sie unter Eigentumsvorbehalt, im Lager "Rote Nelke" abzustellen und bis zur dirketen Verwendung zu verwahren. Valentin Bjelokon bekam den Auftrag, sie je nach Anfall der Arbeiten herauszugeben. Somit benutzten die Arbeiter im Laufe der Bauzeit "unsere Maschienen und Baustoffe", wobei sich sowohl die Arbeiter als auch die Leitung des Ferienlagers zu Sorgfallt und Rechenschaft uns gegenüber verpflichtet haben. Ebenso stellte der Vertrag die Zweckbindung der überbrachten Mittel fest. Auch die Medikamente und medizinischen Hilfsgüter wurden Bjelokon unter der vertraglich festgeschriebenen Voraussetzung übergeben, sie kostenlos an die bedürftigen "Tschernobyl-Kinder" abzugeben oder für ihre behndlung einzusetzen. was im Gespräch mit Bjelokon überhaupt kein Problem war, gestaltete sich im Gespräch mit der Leitung des Ferienlagers als Außerordentlich schwierig. Wir wurden den Verdacht nicht los, als würden unsere Verhandlungspartner unter allen Umständen versuchen, sich die Schlupflöcher für eine persönlich Bereicherung offenzuhalten. Dagegen wurden wir immer sicherer in der Bewertung und  Einschätzung unseres eigenen Standpunktes. Es galt unter allen Umständen zu verhindern, daß unsere Hilfsgüter in irgendwelchen dunklen oder halbdunklen Kanälen verschwinden. Mit dem Hintergrund der Verhandlungsart bei uns in Deutschland kam ich mir den Freunden im Slawjanogorsk gegnüber schon recht merkwürdig vor. 

Mit zweitägiger Versätung erreichte der LKW schließlich Slawjanogorsk. Sofort stürmten von überall staunende Menschen herbei, die der Endladung aufmerksam folgten. Einen ganzen tag lang dauerte die penible, vor Ort durchzuführende, Zollkontrolle. Auf der Suche nach Drogen und anderem Schmuggelgut mußte jeder Karton geöfnet und durchgesehen werden.  

Für die Hilfsgüter entstanden zwei Lagerräume. Zwei große Garagen, die eine für die Ladung und die Ausgabe, der Zweite- Hand- Kleidung, die andere für die Lagerung und Ausgabe der Baustoffe. Die Medikamente und medizinischen Hilfsgeräte kamen sofort in die derzeitige Krankenstation des Lagers und wurden damit direkt der Verwaltung Dr. Bjelokons übergeben. 

Der Tagesplan, der den Rahmen für unsere praktische Arbeit abgab, sah eine Früh- und eine Spätschicht vor. Aus der großen Gruppe der 47 Teilnehmenden wurden etwa zehn "Poliere" ausgewählt, die für die Koordinierung der praktischen Arbeit vor Ort zusatändig und verantwortlich waren. Somit kam jeder Jugendliche - Pausezeiten abgerechnet - auf eine tägliche Arbeitszeit von fünf bis sechs Stunden. Es waren aber nicht wenige, die am Morgen um 8.30 Uhr mit der Arbeit begannen und bis zum Abend um 19.oo Uhr oder 19.30 Uhr tätig blieben. Ebenso hat der größte Teil der Gruppe freiwillig auch an den Sonntagen auf dem Bau gearbeitet, um so den Zeitverlust durch das verspätete Eintreffen des LKWs wieder